Ausgabe: GT  Datum: 15.04.2005

Wurde Hilberts Idee abgeschnitten?

Neues im Prioritätsstreit mit Einstein

Mit der Frage, wer die Gravitationsgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie zuerst fand, beschäftigt sich die Göttinger Wissenschaftshistorikerin Dr. Daniela Wuensch in ihrem Buch „zwei wirkliche Kerle“. Ihre These: Entscheidende Quellen in der Handschriftenabteilung der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek wurden gefälscht.
Mit der Relativitätstheorie bringen die meisten nur einen Namen in Verbindung: Albert Einstein. Doch wer die endgültigen Gravitationsgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie als erster fand, ist umstritten. Lange Zeit wurde angenommen, dass diese Ehre dem Göttinger Mathematiker David Hilbert gebühre. 1997 wendete sich das Blatt, als in der Handschriftenabteilung der SUB eine bis dahin unbekannte Quelle auftauchte: die Fahnenkorrekturen zu Hilberts Aufsatz, den er am 20. November 1915 eingereicht hatte – fünf Tage vor Einstein. In diesen Druckfahnen fehlt eine explizite Formulierung der endgültigen Gleichung, die in der späteren überarbeiteten Version enthalten ist – Hilbert galt fortan als der „Dieb“
Daniela Wuensch hat diese Quelle nun genau untersucht. Ihre These: Die Stelle, in der die Gleichung explizit formuliert war, ist aus den Druckfahnen herausgeschnitten worden – und das, nachdem die Quelle in den 60er Jahren in die Handschriftenabteilung gelangt war. Den Täter vermutet sie in einem Kollegen, der den Prioritätsstreit zugunsten Einsteins entscheiden wollte: „Wissenschaftshistoriker verfallen nicht selten in eine Art Anbetung für die untersuchte Person.“
„Es ist eine mutige Behauptung“, gibt Wuensch, die am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Göttingen lehrt, zu. Bereits Anfang 2004 hatte der amerikanische Physik-Professor Friedwardt Winterberg in einem Aufsatz ähnliches behauptet. Sie habe zunächst selbst an diesem Vorwurf gezweifelt, „aber ich habe daraufhin die Quelle etwa ein Jahr lang untersucht und keine andere Erklärung gefunden.“
Für unwahrscheinlich hält jedoch Dr. Helmut Rohlfing, Leiter der Handschriftenabteilung, Wuenschs These. „So einfach ist es gottlob nicht, Dinge aus dem Lesesaal zu entfernen“, stellt er klar. Schließlich sei ständig eine Aufsicht vor Ort. Die Möglichkeit, dass der Ausschnitt zu Hilberts Zeiten, möglicherweise von diesem selbst, gemacht wurde, hält Rohlfing für wahrscheinlicher. „Diese Vermutung hat Wuensch nicht hinreichend entkräftet.“ Die Historikerin aber ist sich sicher: Erst in neuerer Zeit wurde die Quelle manipuliert. Für ihre Behauptung führt sie eine ganze Reihe von Argumenten auf. Manches davon bleibt allerdings Vermutung – wenn auch begründete.
Keine Formelsammlung
Im Grunde sei aber die Prioritätsfrage an sich falsch, glaubt Wuensch, die an ihrer Habilitation über Hilbert arbeitet. Denn die Theorien von Einstein und Hilbert seien grundverschieden: Während Einstein die Gravitation erklären wollte, habe Hilbert Gravitation und Elektromagnetismus in einer vereinheitlichten Theorie zusammenfassen wollen. „Das ist mein eigentlich wichtiges Ergebnis: Physik ist keine Formelsammlung, eine fehlende Gleichung macht noch keine Theorie zunichte.“ Einstein könne also weiter als Begründer der Relativitätstheorie gelten – auch wenn die Gravitationsgleichungen in Hilbert-Einstein-Gleichungen umbenannt werden sollten, so Wuensch. Kathrin Schneider
Daniela Wuensch: „zwei wirkliche Kerle“. Neues zur Entdeckung der Gravitationsgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie durch Albert Einstein und David Hilbert. 126 Seiten, Termessos Verlag, Göttingen 2005, 24, 95 Euro.